2011
Nach dem werksseitigen Rückzug von Mercedes-Benz aus der Formel 1 und der Sportwagen-Weltmeisterschaft zum Ende der Saison 1955 bekommen die Rallyes ab 1956 die ganze Aufmerksamkeit der Fans der Marke. Die vor allem von Privatteams eingesetzten Fahrzeuge mit dem Stern sind auf Strecken in aller Welt unterwegs.
Während Renn- und Rennsportwagen der vergangenen Jahre als feinnervige Hochleistungssportler brilliert haben, zeigen nun die seriennahen Personenwagen beim Test auf Herz und Nieren ihre Standfestigkeit. Zuständig für die Rallye-Einsätze ist Karl Kling als Mercedes-Benz Sportdirektor: Nach der Pensionierung Alfred Neubauers übernimmt der Ex-Rennfahrer so einen Teil der Verantwortlichkeit der Rennleiter-Legende.
In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren sind es vor allem der Sportwagen 300 SL sowie die Sechszylinder-Limousinen 220 SE und 300 SE, die auf den Straßen und Schotterpisten der Welt von sich reden machen. Geprägt werden diese Jahre unter anderem von dem Team Walter Schock und Rolf Moll. Dem Duo, das für den Motorsportclub Stuttgart startet, bietet Mercedes-Benz eine umfangreiche Unterstützung durch Fahrzeuge und Service an. Im Mercedes-Benz 220 „Ponton“ startet Walter Schock am 15. Januar 1956 bei der Rallye Monte Carlo und kommt am 23. Januar mit nur 1,1 Sekunden Rückstand auf den Sieger ins Ziel.
Einen Monat später starten die Stuttgarter auf dem 300 SL „Flügeltürer“ in Italien zur Rallye del Sestrière. In den Bergen hängt der Hochleistungssportwagen die anderen Fahrzeuge einfach ab.
Schock erinnert sich an die überragende Leistung des Coupés im winterlichen Rallye-Einsatz: „Ganz feine Schneeketten auf allen vier Rädern erlaubten uns bergauf Geschwindigkeiten bis zu 180 km/h.“ Am 28. Februar kommt das Team als Sieger ins Ziel. Weitere Triumphe folgen mit dem Gewinn der Rallye Akropolis (26. bis 29. April 1956) und Klassensiegen bei der Rallye Wiesbaden (21. bis 24. Juni 1956) und der Rallye Adriatique (26. bis 30. September). Schock gewinnt außerdem seine Klasse beim Eifelrennen und kommt auf Platz 2 beim Rahmenrennen zum Großen Preis auf dem Nürburgring. So wird er 1956 Europa-Tourenwagenmeister und Deutscher Meister in der GT-Klasse über 2000 Kubikzentimeter.
Aber auch der Sportdirektor selbst greift ab und an noch zum Steuer und wird so zu einer Art Mercedes-Benz Werkspilot auf Zeit. Ein ungewöhnlicher Sieg gelingt Karl Kling zusammen mit Rainer Günzler 1959 bei der 14.000 Kilometer langen Rallye Mediterranée–Le Cap vom Mittelmeer bis Südafrika. Die Stuttgarter starten zu dieser Rallye auf einem Mercedes-Benz 190 D. Der Diesel trägt das deutsche Team zuverlässig zum Sieg.
1961 pilotiert Kling wieder eine Limousine durch Afrika. Diesmal hat er einen Mercedes-Benz 220 SE „Heckflosse“ gewählt, mit dem er siegreich die Rallye Algier–Lagos–Algier bestreitet, auf dem Beifahrersitz wieder Rainer Günzler. Außerdem ist Kling als Rennleiter präsent, wenn Teams auf Mercedes-Benz als Werksmannschaft bei ausgewählten großen Rennen starten.
Auch 1960 verbuchen das Team Schock und Moll mit ihrem Mercedes-Benz 220 SE die Rallye-Europameisterschaft für sich. Schon bei der legendären Rallye Monte Carlo gehen sie als Erste durchs Ziel.
Der erste deutsche Gesamtsieg in diesem Wettbewerb ist zugleich ein Dreifacherfolg für Mercedes-Benz. Denn die Plätze 2 und 3 belegen die Fahrerteams Eugen Böhringer/Hermann Socher und Eberhard Mahle/Roland Ott.
Die Sportpresse fordert nach diesem Triumph 1960, Mercedes-Benz solle wieder mit dem kontinuierlichen Einsatz von Werksfahrzeugen auf die Rennstrecken der Welt zurückkehren. Doch Sportchef Kling macht deutlich: „Dieser Erfolg wird uns ermutigen, weiter erhebliche Anstrengungen in Rallyes zu machen. Doch Mercedes hat nicht die Absicht, wieder zum Rennsport zurückzukehren.“
In den 1960er-Jahren nehmen mehrmals Mercedes-Benz Mannschaften am Straßenrennen „Gran Premio Argentina“ teil. Am 26. Oktober 1961 startet Walter Schock zu dieser ganz besonderen Rallye, zu der 207 Fahrer antreten. Die Teilnehmer erwartet ein hartes Rennen auf einer 4600 Kilometer langen Route mit rund 3000 Meter Höhenunterschied. Die Strapaze endet am 5. November mit einem Doppelsieg für Mercedes-Benz. Walter Schock und Rolf Moll kommen als Erste ins Ziel, gefolgt von Hans Herrmann und Rainer Günzler. „Es war wohl mein schwerstes Rennen, das ich je gefahren bin“, sagt Rallye-Champion Schock nach der Rückkehr aus Südamerika. Juan Manuel Fangio persönlich hat zusammen mit Rennleiter Karl Kling die von der Stuttgarter Marke unterstützten Teams begleitet.
Da dieser Wettbewerb sehr wichtig für den amerikanischen Markt ist, engagiert sich Mercedes-Benz auch in den folgenden Jahren: 1962 bringt einen sensationellen Sieg des Damenteams Ewy Rosqvist/Ursula Wirth, 1963 und 1964 heißt der Sieger Eugen Böhringer, jeweils vor zwei weiteren Mercedes-Benz.
Böhringer, der seit 1957 Mercedes-Benz Wagen bei Rallyes pilotiert, gewinnt 1962 die Rallye-Europameisterschaft auf Mercedes-Benz 220 SE. Mit seinen Beifahrern Peter Lang und Hermann Eger fährt Böhringer in dieser Saison unter anderem bei folgenden Rennen Punkte ein: Rallye Monte Carlo (2. Platz), Tulpen-Rallye (7. Platz), Rallye Akropolis (Sieg), Rallye Mitternachtssonne (5. Platz), Polen-Rallye (Sieg), Rallye Lüttich–Sofia–Lüttich (Sieg) und Deutschland-Rallye (2. Platz).
Ein Höhepunkt des Jahres ist sein Sieg bei der legendären Straßen-Wettfahrt Lüttich–Sofia–Lüttich auf Mercedes-Benz 220 SE. Diesen Marathon quer durch Europa, jetzt nicht mehr nach Rom, sondern nach Bulgarien, entscheidet der Stuttgarter auch 1963 für sich, diesmal auf dem Mercedes-Benz 230 SL „Pagode“: Ihm gelingt damit als erstem Fahrer überhaupt der Sieg bei dieser strapaziösen Rallye in zwei aufeinanderfolgenden Jahren.
Erfolgreich ist Mercedes-Benz auch in Nordamerika. Speziell für die amerikanische Sportwagen-Meisterschaft entsteht 1957 der Mercedes-Benz 300 SLS. Er basiert auf dem Serien-Sportwagen 300 SL Roadster, ist jedoch dank des auf 900 Kilogramm reduzierten Gewichts und der von 215 PS auf 235 PS angehobenen Motorleistung zu einem erneut sehr konkurrenzfähigen Fahrzeug geworden. Dem Amerikaner Paul O’Shea sichert der SLS den dritten Titelgewinn in Folge, nach zwei Siegen auf dem 300 SL „Flügeltürer“ in den Jahren 1955 und 1956.
Der Werkseinsatz der starken Achtzylinder-Limousine vom Typ 300 SEL 6.3 bleibt auf ein Rennen begrenzt. Beim Sechsstunden-Tourenwagenrennen in Macao 1969 gewinnt Erich Waxenberger.
Die Ölkrise Anfang der 1970er-Jahre verhindert danach weitere Sporteinsätze der starken Limousine. Der Automobilhistoriker Karl Eric Ludvigsen betont die Bedeutung dieses Einschnitts in der Rennsportgeschichte der Stuttgarter Marke: „Durch die Ölkrise erfuhr eine lange Tradition bei Daimler-Benz erstmals eine von außen gesteuerte Unterbrechung. Sie hatte genau genommen um die Jahrhundertwende begonnen und – abgesehen von den Kriegsjahren – nur 1955 eine Zäsur erfahren; in jedem Jahr hatte es stets einen oder mehrere Benz, Mercedes oder Mercedes-Benz gegeben, die mit direkter oder auch indirekter Werksunterstützung mindestens an einem bedeutenden Rennen beteiligt waren.“
Allerdings führen Privatfahrer die Mercedes-Benz Renntradition weiter. Ihre Fahrzeuge werden immer häufiger von AMG für den Sporteinsatz vorbereitet – einem Unternehmen, das die ehemaligen Daimler-Benz Mitarbeiter Hans-Werner Aufrecht und Erhard Melcher 1967 unter dem Namen „Ingenieursbüro, Konstruktion und Versuch zur Entwicklung von Rennmotoren“ in Burgstall bei Stuttgart gründen.
Zu den Spitzenprodukten der ersten Jahre gehört die verfeinerte Version des Mercedes-Benz 300 SEL mit 6,8-Liter-Motor, der 1971 bei den 24 Stunden von Spa Francorchamps einen Klassensieg und Platz 2 im Gesamtklassement holt. Der unabhängige Tuningbetrieb bewährt sich über viele Jahre bei der Vorbereitung von Wettbewerbsfahrzeugen, bevor die damalige DaimlerChrysler AG ihn vollständig übernimmt.
Fotos: Daimler AG
Geschrieben von Maik Jürß
Erschienen am Mittwoch, den 06. April 2011 um 21:43 Uhr | 11.428 Besuche
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