2010
Das originale Siegerfahrzeug der dritten Carrera Panamericana Mexico im November 1952 gelangt wieder an den Ort seines großen Triumphs: Der Rennsportwagen vom Typ 300 SL (Baureihe W194) verlässt für eine kurze Zeit die Ausstellung „Rennen und Rekorde“ des Mercedes-Benz Museums in Stuttgart, um in Mittelamerika zusammen mit seinem jüngsten Nachkommem, dem SLS AMG, ein Teil der ursprünglichen Rennstrecke zu befahren.
Die 3. Carrera Panamericana ist weltweit eins der wichtigsten Rennen der Saison 1952. Am 23. November 1952 schreibt Mercedes-Benz einen historischen Motorsporterfolg: Der Doppelsieg von zwei 300 SL-Sportwagen beim diesem legendären Straßenrennen über 3113 km quer durch Mexiko von der Grenze zu Guatemala im Süden nach Ciudad Juarez an der Nordgrenze zu den USA. Der Doppelsieg dort gilt als einer der spektakulärsten Erfolge der Marke Mercedes-Benz.
Große Höhen, Tausende von Kurven und sengende Hitze waren nur einige der Herausforderungen an die Starter. Dabei gelang dem Team aus Karl Kling am Steuer und CopilotHans Klenk ein sensationeller Streckenrekord: 18 Stunden, 51 Minuten und 19 Sekunden Fahrzeit bedeuteten eine Durchschnittsgeschwindigkeit von165,011 km/h auf riskanter, im Grunde öffentlicher Straße ohne ernsthafte Sicherheitsvorkehrungen. Die Zweitplatzierten, das SL-Team mit Hermann Lang und Erwin Grupp, erreichten das Ziel 35 Minuten nach den Siegern.
Die turbulenten Ereignisse während des mexikanischen Straßenrennens des Jahres 1952, wie etwa die Kollision des Siegerwagens mit einem Geier, sowie ungezählte Reifenpannen auf dem rauen Asphalt machten die damalige Carrera Panamericana zum unvergesslichen Motorsportereignis. Die damals 3113 Kilometer lange, materialzehrende Rennroute forderte einen logistischen Marathon von Service- und Reifen-wechselpunkten. In 8000 bis 10.000 Kilometer langen Etappen führte die „Carrera“ in nur vier Tagen von Tuxtla Gutiérrez im tropischen Süden entlang den Oberkan-ten tiefer Schluchten über hohe Pässe nach Ciudad Juarez im Norden Mexikos. Fahrer und Rennwagen trotzten brennender Sonne, Temperaturschwankungen von 5 bis 40 Grad Celsius im Schatten, Höhenunterschieden vom Meeresspiegel bis 3300 Meter, dem extrem „lebensfeindlichen“ Streckenprofil, ungezählten Pannen und erreichten dabei Geschwindigkeiten, die selbst 50 Jahre später als „Fabelwerte“ empfunden werden.
Eine Voraussetzung des Mercedes-Erfolges bei diesem Straßenrennen war die Entscheidung des Daimler-Benz Vorstands vom Sommer 1951, grünes Licht für den Bau eines neuen Rennsportwagens zu geben. Am 13. März 1952, nur neun Monate nach dem wegweisenden Vorstandsbeschluss, stand das erste Exemplar auf den Rädern. Topfit für den ersten Einsatz beim italienischen Straßenrennen Mille Miglia, wo der Mercedes-Sportwagen als Zweiter durchs Ziel fuhr.
Obwohl als technische Basis – aus Kostengründen und Zeitknappheit – nur die Limousine W186, der berühmte Mercedes-Benz 300, zur Verfügung gestanden hatte, war der Sportwagen auf Anhieb erfolgreich. Versuchschef Rudolf Uhlenhaut, der die entscheidenden Impulse für den 300 SL gegeben hatte, erinnerte sich später: „Wir nahmen den Serienmotor des 300 und bauten um ihn herum einen Rohrrahmen mit einer Aluminium-Karosserie.“
Das Konzept stimmte. Das bewiesen die viel beachteten Siege: Nach der Mille Miglia sorgten die 300 SL 1952 auch beim Großen Preis von Bern auf der Bremgarten-Rundstrecke für Aufsehen und belegten die ersten drei Plätze. Im Juni 1952 erzielten Lang/Rieß und Helfrich/Niedermayr in Le Mans einen spektakulären Doppelsieg, und im August desselben Jahres landeten die 300 SL nach dem Lauf auf dem Nürburgring auf den ersten vier Plätzen. Diese sportlichen Erfolge in Europa motivierte die Stuttgarter Automobilmarke, weitere, exotischere Ziele ins Auge zu fassen – auch in Übersee, bei der Carrera Panamericana.
1950 hatte das prosperierende Mexiko als erstes lateinamerikanisches Land seinen Teilabschnitt des Pan-American-Highways fertig gestellt – ein Stück jener Traumstraße, die Nord- und Südamerika durchquerte und somit die erste direkte Landverbindung zwischen Alaska und dem Feuerland bildete. Doch diese faszinierende Tatsache an sich reichte jedoch nicht aus, um das Interesse der Weltöffentlichkeit auf Mexiko und den neuen Stolz der Nation zu lenken. Die Lösung lag buchstäblich auf der Straße, wie man zuerst im mexikanischen Verkehrsministerium erkannte: Mit der Idee, ein internationales Autorennen auszurichten, begeisterte der damalige Behördenchef seinen Staatspräsidenten Miguel Alemán auf Anhieb. Die „Carrera Panamericana“ würde, so das Kalkül des Regierungschefs, die Welt auf Mexiko aufmerksam machen. Er hatte richtig kalkuliert.
„La Carrera Panamericana“ – dieses exotisch und verheißungsvoll klingende Synonym für Abenteuer und Nervenkitzel ließ nicht nur erklärte Motorsportfans aufhorchen. In Amerika war das Rennen sofort äußerst populär. Auch in Europa löste es eine ungeahnte Euphorie aus. Kein Wunder, traten doch nahezu alle an, die damals Rang und Namen in der Automobilszene besaßen. Das galt für die Fahrer – von Juan Manuel Fangio über Karl Kling, Hermann Lang und Alberto Ascari bis hin zu Giovanni Bracco – ebenso wie für die Hersteller: Aus Europa reisten Werksteams von Ferrari, Jaguar, Alfa Romeo, Lancia, Maserati, Gordini und Porsche an. Die USA waren durch die größten Hersteller der Welt Chrysler, Ford und General Motors mit den Marken Buick, Cadillac und Oldsmobile nicht minder prominent vertreten.
Obwohl der Zeitpunkt für ein Engagement von Mercedes-Benz nicht günstiger hätte sein können, war einer der Hauptverantwortlichen zunächst noch skeptisch: Der erfahrene Motorsportler und damalige Rennleiter Alfred Neubauer erinnerte sich, dass die Bestimmungen des ersten Rennens im Jahr 1950 nur Fahrzeuge zugelassen hatten, die in großen Serienstückzahlen gefertigt wurden und über mindestens fünf Sitze verfügten. Als Folge dieser aus europäischer Sicht ungewöhnlichen Vorgabe, die wohl hauptsächlich die verfügbaren Fahrzeuge in den nahe gelegenen USA berücksichtigte, nahmen große, schwere und für ein extrem schnelles, kurvenreiches Straßenrennen wenig taugliche Wagen teil. Erster Sieger war der Amerikaner Hershel McGriff mit einem Oldsmobile 88. Seine Zeit: Über 27 Stunden, rund acht Stunden mehr als Kling und Klenk im 300 SL nur zwei Jahre später benötigten.
Im Folgejahr 1951 liberalisierten die Veranstalter das Reglement und 1952 schließlich ließen die Bestimmungen auch Fahrzeuge zu, die für raue Renneinsätze speziell präpariert worden waren. Der neu konstruierte 300 SL schien wie geschaffen für den Einsatz in Mexiko: Mit einem Leergewicht von nur 870 Kilogramm, einem Radstand von 2,40 Metern, aus damaliger Sicht leistungsfähigen Trommelbremsen, einer Motorleistung von 180 PS, einer niedrigen Stirnfläche und einem für damalige Verhältnisse sensationell geringen cw-Wert von 0,25 war er mit 240 km/h Topspeed der richtige Sportwagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Neubauer überwand alle Vorbehalte und witterte, gestärkt durch die bemerkenswerten Erfolge in Europa, auch Ruhm in Mexiko. So wurde nach einer Vorstandssitzung vom 22. September 1952 im Direktionsbeschluss Nummer 4150 besiegelt, sich mit drei Fahrzeugen an der dritten Carrera Panamericana vom 19. bis 23. November des Jahres zu beteiligen. Da jedoch die verbleibende Zeitspanne für die notwendigen Vorbereitungen eines Straßenrennens dieser Extremkategorie denkbar knapp war, eilte Rennfahrer Karl Kling bereits am Tag nach dem Beschluss in die Alpen, um bei Höhenversuchen die Zündung und die Vergaserdüsen des 300 SL auf die extremen mexikanischen Höhen von bis zu 3300 Metern einzustellen, mehr als 800 Meter höher als jeder europäische Pass.
Um so früh wie möglich vor Ort zu sein, gingen Anfang Oktober 1952 die Fahrzeuge und die Servicemannschaft von Hamburg aus auf die mehrwöchige Seereise in die mexikanische Hafenstadt Veracruz. Ende des Monats folgten Alfred Neubauer mit den Fahrerteams Karl Kling/Hans Klenk und Hermann Lang/Erwin Grupp an Bord einer DC 6 der KLM von Stuttgart-Echterdingen via Amsterdam, Gander, Montreal und Monterey – damals eine strapaziöse Tortur von rund 2 Tagen. In Mexiko wartete bereits der Pilot des dritten 300 SL, der junge amerikanische Rennfahrer John Fitch. Im Gegensatz zu zu den Coupés von Kling und Lang sollte Fitch den 300 SL also Roadster fahren.
Vor Ort war große Eile und konzentrierte Vorbereitung angesagt. Nur drei Wochen verblieben den drei Dutzend Mercedes-Motorsportspezialisten, den Fahrern, Helfern und Mechanikern, um sich auf das extrem lange und harte Straßenrennen in schwierigsten geografischen und klimatischen Bedingungen vorzubereiten. In dieser kurzen Zeit gelang es, die 300 SL für die extremen Anforderungen tauglich zu machen. Überdies versuchten die Teams, sich die über 3100 Kilometer lange Strecke mit ihren ungezählten Kurven, schmalen Brücken und anderen Gefahrenquellen, die meistens bei hoher Geschwindigkeit vorher nicht auszumachen waren, zu notieren und einzuprägen. Bei einer einzigen Versuchsfahrt auf der riesigen Strecke, noch dazu in einer wesentlich langsameren, geliehenen Mercedes 300 Limousine konnte dies jedoch nur unvollständig gelingen. Am meisten Sorgen bereitete der ausgesprochen raue Asphalt, der in Tausenden von Kurven das Reifenprofil im Zeitraffer regelrecht abfräste.
Am Mittwoch, dem 19. November 1952, fiel endlich der Startschuss: Ab 6:30 Uhr morgens gingen in Tuxtla Gutiérrez 90 Wagen (29 Sport- und 61 Tourenwagen) in Minutenabständen auf die Strecke. Zu den ebenso monumentalen wie optimalen Randbedingungen der Straßenrennen zählten rund 40.000 Soldaten, 3000 Sanitäter sowie 600 Funktionäre. 65 Flugzeuge transportierten Menschen und Material von Etappe zu Etappe.
Wie sich in den Vorbereitungsfahrten angedeutet hatte, entwickelte sich das Rennen zur Materialschlacht. Für Kling und Klenk erwies sich bereits die erste Etappe als schicksalhaft. Kling, der mit 200 Kilometern pro Stunde auf eine lang gezogene Rechtskurve zuraste, erkannte die Geier zu spät, die neben der Straße hockten. Einer von ihnen flog auf und schlug durch die Frontscheibe des 300 SL. Beifahrer Hans Klenk wurde im Gesicht getroffen und war für kurze Zeit bewusstlos. Rund 70 Kilometer später, beim Reifenwechsel, wäscht sich Klenk das Gesicht, Helfer sammelten Glasscherben und die Überreste des Vogels aus dem Wagen und schon preschten beide weiter in Richtung Etappenziel Oaxaca. Dort wurde Hans Klenk kurz untersucht und mit einem „vaya con Dios“ als geheilt entlassen. Um sich vor weiteren Kollisionen solcher Art zu schützen, schraubten Kling und Klenk acht vertikale Stahlstreben vor die neue Frontscheibe. Im Rückblick machte der Zwischenfall, der die beiden Piloten eher anspornte, den Sieg und die gesamte Carrera Panamericana erst zur Legende.
Weiter hasteten die Mercedes-Teams in ihren 300 SL durch Mexiko: Karl Kling und Hans Klenk, Hermann Lang und Erwin Grupp, John Fitch und Eugen Geiger. Die Gebirgsetappen gehören zu den gefährlichsten Straßen der Welt; mit tückischem, abschüssigem Profil, abrupten Windungen und gemeinen Haarnadelkurven fordern sie extrem Bremsen, Reifen und Fahrwerk sowie Mut und Konzentration des Piloten. Zu beiden Seiten der Piste klaffen Felsspalten und Schluchten mit bis zu 300 Meter Tiefe.
Doch allzu große Vorsicht bremst. So sorgten die 300 SL-Piloten auf ihre Art vor: Hans Klenk hatte bei der Erkundungsfahrt wesentliche Gefahrenstellen mitsamt Kilometerangaben notiert: Hans Klenk gilt heute als der veritable Erfinder des sogenannten Gebetbuches, das sich nach wie vor bei jeder Rallye als unverzichtbares Hilfsmittel erweist. Karl Kling konnte sich also neben seinem enormen Instinkt, unbekannte Strecken sehr schnell „auf Sicht“ zu fahren, auch auf diesen Aufschrieb berufen. Die mörderische Strecke fordert Mensch und Material, Fahrer und Beifahrer retten sich mit kleinen Reparaturen über die Etappen. Die Mechaniker sind die stillen Helden; sie wechseln am Ende der Etappen Übersetzungen, Scheiben, Reifen, Kupplungen, Stoßdämpfer, Türen, oft auch die durchschwitzten Hemden.
Am letzten Tag der Carrera Panamericana gingen Karl Kling und Hans Klenk als Viertplatzierte an den Start. Kling und Klenk „flogen“ dann in einer Fabelzeit über die letzte Etappe und siegten überlegen vor Tausenden begeisterten Zuschauern aus Mexiko und Texas. Karl Kling: „Auf einigen der Etappen fuhren wir so schnell, dass Rennleiter Alfred Neubauer mit seiner gecharterten DC 3 nicht hinterherkam.“ Die siegreichen Fahrzeuge zeigten zahllose Spuren der Torturen: Wind und Sand hatte das Aluminium abgestrahlt; die Karosserien trugen Schrammen von herumfliegenden Steinen, waren verbeult und verbogen.
Selbst die Disqualifikation des Teamkameraden John Fitch konnte die Freude über den Doppelsieg von Karl Kling und Hans Klenk mit dem Streckenrekord nur kurz trüben. John Fitch wurde nach Bestzeit auf der letzten Etappe und chaoti-schem Hin und Her disqualifiziert. Er war bei der vorletzten Etappe hinter die Startlinie zurückgefahren, um die Spur seines Wagens nochmals einstellen zu lassen und soll dabei fremde Hilfe in Anspruch genommen haben.
Der Triumph beim Straßenrennen der Carrera Panamericana von 1952, ein historisches Ereignis in der Motorsportgeschichte, bewirkte einen enormen Popularitätsschub für die Fahrer wie auch für die gesamte Marke Mercedes-Benz. Der Doppelsieg markierte jedoch nicht nur den Höhepunkt einer für Mercedes-Benz überaus erfolgreichen Rennsportsaison, er war zugleich eine eindrucksvolle Demonstration der wiedergewonnenen Leistungsfähigkeit der deutschen Autoindustrie und das Signal für die Weiterentwicklung des weltberühmten Mercedes-Benz 300 SL. Die bei der Carrera Panamericana eingesetzten Prototypen des Sportwagens gelten deshalb zu Recht als Urväter dieser Sportwagen-Legende, die kurze Zeit später, am 6. Februar 1954, auf der „International Motor Sports Show“ in New York Weltpremiere feierte.
(Fotos: Daimler AG)
Geschrieben von Oliver Hartwich
Erschienen am Freitag, den 09. April 2010 um 17:56 Uhr | 13.522 Besuche
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