2016
Etwa 160 Fahrzeuge sind die Stars im Mercedes-Benz Museum in Stuttgart. Aber was kaum Einer weiß, es warten noch mehr als 800 weitere Preziosen auf ihren Einsatz. Sie stehen abseits des Rampenlichtes in den Hallen des Museums. Einem Team der Zeitschrift „auto motor und sport“ hatte die Gelegenheit zum Besuch der heiligen (Lager)-Hallen.
Die Gelegenheit war günstig und ließ dem unvorbereiteten Besucher schlagartig den Atem stocken. Als sich die Hallentür öffnet, weht der kleinen Gruppe aus Fotografen, Autor und Kurator ein verhaltener Atem von hochoktanigem Benzin entgegen – abgeschmeckt mit einer Prise Rennöl und dem kalten Duft von Stahl, der die Auszeit genießt und nicht mehr rot glühend über die Rennpisten dieser Welt gepeitscht wird.
Erlebnisse dieser Art vermitteln die streng abgeschotteten Hallen, in denen jene Teile der Fahrzeugsammlung aufbewahrt werden, die gerade nicht im Mercedes-Benz Museum oder auf Veranstaltungen in aller Welt das Publikum faszinieren. Und sie bilden die Majorität: Von den rund 1.000 Fahrzeugen der unternehmenseigenen Sammlung, die vom Beginn der Autogeschichte vor 130 Jahren bis in die Gegenwart reichen und auch Fahrzeuge aktueller Baureihen umfassen, gehören derzeit rund 840 Klassiker der eisernen Reserve an.
„Jedes Jahr wächst die Fahrzeugsammlung um etwa 30 bis 50 Exemplare“, verrät Sammlungsmitarbeiter Holger Lützenkirchen. Dazu gehören neben Oldtimern, die zur Vervollständigung der Sammlung erworben werden, auch zum Beispiel Belegstücke der gerade auslaufenden Serien. Wirklich jeder Serie?
„Prinzipiell ja“, antwortet Lützenkirchen, „wir sammeln hier ja nicht für uns, sondern neben dem Publikum auch für unsere Nachfolger, die vielleicht in 20 oder 30 Jahren bestimmte Fahrzeuge aus unserer Geschichte in der Kommunikation einsetzen möchten. Und wir wissen ja nicht, welche Themen in der Zukunft relevant sein werden. Also heißt es, alles an Autos zu sammeln, was Mercedes-Benz, aber auch smart hergestellt.“
Die Unterbringung wirft dabei ganz widersprüchliche Probleme auf. Extrem trockene Luft zum Beispiel ist gut für den Erhalt von Hohlräumen in den Karosserien, aber schlecht für das Leder der Sitze. Leder hat es gerne etwas feuchter. Das Betrachten einzelner Modelle in den Räumen, die im Jargon der Classic-Mitarbeiter scherzhaft die „heiligen Hallen“ genannt werden, ist dabei mit Durchwinden, Vorbeidrücken und hochbeinigem Übersteigen verbunden. „Wir halten hier ein Lager vor und keine Ausstellungsfläche“, erläutert Lützenkirchen den raumsparenden Stand der Automobile.
Novizen, die diese Hallen zum ersten Mal betreten, kommen sich dabei automatisch ein bisschen vor wie Indiana Jones beim Finden der verlorenen Schätze. In der Abteilung für Personenwagen ab den 50er-Jahren steht zum Beispiel ein abgeschabter 190 SL, einst grau lackiert und ausstaffiert mit dem Hardtop. Sein Besitzer hat sich so am Wienern und Polieren der unter kalifornischer Sonne rissig gewordenen Farbschicht abgearbeitet, dass auf dem linken vorderen Kotflügel bereits die Grundierung hervorlugt. Nicht viel besser die schwarzen Türverkleidungen: Von ihnen blättert die mal noble schwarze Oberfläche rissig ab.
Der kleine Aufkleber NASA Flight Research Center verrät etwas über den ehemaligen Besitzer. Der patinierte SL gehörte einst dem NASA-Astronauten David R. Scott, der als siebter Mensch überhaupt den Mond betrat und mit einer Falkenfeder und einem Hammer nachwies, dass leichte und schwere Gegenstände beim Fehlen von Atmosphäre gleich schnell fallen.
Storys ähnlicher Art halten die meisten der in den heiligen Hallen parkenden Automobile bereit. Da steht etwa der Kompressor-Monoposto W165 aus dem Jahr 1939 und erzählt dem neben ihm parkenden Formel-1-Rennwagen von 1955, wie er in nur neun Monaten für den GP von Tripolis konstruiert und gebaut worden ist. Er holte auf Anhieb einen Doppelsieg, doch dann verhinderte der Krieg die weitere Karriere. Die Geschichte ist wahr, der W165 ihr metallener Zeuge.
Da stehen die aerodynamisch ausgefeilten Hochgeschwindigkeits-C 111, die in den 70er-Jahren im italienischen Nardò Rekorde über Rekorde eingefahren haben. 16 davon gleich im Jahr 1976, etwa für 500 Kilometer mit einem durchschnittlichen Tempo von 254 km/h, angetrieben von einem 190-PS-Diesel. Die Straßenversionen des Supersportwagens C 111 stehen zu sechst in einer Nebenhalle, zwei in der ursprünglichen Ausführung von 1969, vier als zweite Version von 1970 mit Vierscheiben-Wankel und 350 PS.
Da ist das gepanzerte Papa-Mobil zweier Heiliger Väter, eine Handvoll Benz Velo als erste Großserienautos der Welt und gleich ein Dutzend Mercedes-Benz 300 SL. Einer davon in Weiß.
„Das“, erläutert Lützenkirchen, „ist der einzige sogenannte Flügeltürer mit originaler GFK-Karosserie. Damit hat der Entwicklungsbereich das Material ausprobiert. Am Ende war er aber zu schwer.“
Daneben eine Reihe von 600ern, lang und superlang, da sind die Kompressor-Sportwagen aus den 30er-Jahren, der Benz Patent-Motorwagen, die Weltmeisterautos der Gruppe C, volle 130 Jahre Auto eben. Ein Traum, diese einmalige Kollektion einmal zusammen zu sehen.
Fotos: auto-motor-und-sport.de
Geschrieben von Maik Jürß
Erschienen am Sonntag, den 04. September 2016 um 00:05 Uhr | 5.651 Besuche
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