2015
Am 10. September 1959 findet der erste Crashtest in der Geschichte von Mercedes-Benz statt. Ein Versuchswagen wird frontal gegen ein festes Hindernis gesteuert. Damit tritt die Sicherheitsforschung der Marke in eine neue Ära ein. Denn nun lässt sich das Verhalten von Fahrzeugen und Insassen bei Autounfällen anhand der Testwagen und Versuchspuppen realitätsnah untersuchen. Bei diesen Arbeiten setzt Mercedes-Benz in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder Standards, die branchenweit Gültigkeit haben und somit die Fahrzeugsicherheit zum Wohle aller Verkehrsteilnehmer nachhaltig verbessern.
Bleibt es in den ersten Jahren noch bei wenigen Unfallversuchen, etabliert sich das Verfahren seit den 1960er Jahren zunehmend als zuverlässiges Werkzeug zur Optimierung und Prüfung der Fahrzeugsicherheit. Neben Personenwagen werden bei Mercedes-Benz auch Transporter und Nutzfahrzeuge bis hin zum Reisebus gründlichen Crashtests unterzogen.
Bei den Unfallversuchen geht Mercedes-Benz immer wieder über die Zahl und den Aufwand der gesetzlich vorgeschriebenen Tests hinaus, beispielsweise bei der E-Klasse der Baureihe W212: Zum Entwicklungsprogramm der Limousine bis zur Serienreife gehören über 150 Crashtests und mehr als 17.000 wirklichkeitsgetreue Crashtest-Simulationen. Dazu zählen außer den rund 40 verschiedenen Aufprallkonfigurationen, die für Ratings und die weltweite Zulassung eines Fahrzeugs vorgeschrieben sind, auch besonders anspruchsvolle Crashversuche, die das Unternehmen ergänzend durchführt. Dieser hohe Anspruch an die eigene Entwicklungsarbeit kennzeichnet bereits die ersten Crashtests im Jahr 1959.
Die intensivere Auseinandersetzung mit der Unfallsicherheit von Fahrzeugen beginnt bei Mercedes-Benz schon mehr als 20 Jahre vor dem ersten Crashversuch: In den 1930er Jahren führen die Mercedes-Benz Ingenieure erste Fahrzeugversuche durch. Diese dienen jedoch noch nicht der Forschung zur passiven Sicherheit, sondern sollen störende Schüttelschwingungen beheben.
Ein entscheidendes Datum für die Sicherheitsgeschichte der Stuttgarter Marke ist 1939, als die Daimler-Benz AG den Ingenieur Béla Barényi einstellt. Seine Entwicklungen werden ganz maßgeblich sein für die passive Sicherheit des modernen Personenwagens. Zu den in mehr als 2500 Patenten festgehaltenen Erfindungen Barényis gehören unter anderem die Sicherheitskarosserie mit gestaltfester Fahrgastzelle und Knautschzonen an Front und Heck (Premiere 1959 in der Baureihe W111) und die Sicherheitslenkung, die 1976 in der Baureihe 123 debütiert.
Barényi und seine Kollegen entwickeln in den 1950er Jahren die Sicherheitskarosserie, deren Knautschzonen durch gezielte Verformung die kinetische Energie eines Unfalls abbauen, bis zur Serienreife. In dieser Zeit herrscht noch immer die Meinung vor, dass eine möglichst hohe Steifigkeit der Karosserie die größte Insassensicherheit bietet. Die neuen Crashversuche zeigen von 1959 an, dass solche Karosserien zwar Unfälle gut überstehen, die dabei freiwerdende Bewegungsenergie aber an die Insassen abgeben, was bei diesen zu schweren Verletzungen führt. Knautschzonen vermindern erheblich die Energie, die bei einem Unfall auf die Insassen trifft.
Die 1951 patentierte Sicherheitskarosserie stellt einen entscheidenden Schritt nach vorn für die passive Sicherheit dar. Barényis Entwicklung ist das Ergebnis genauer Beobachtung, technischen Vorstellungsvermögens und der Bereitschaft zum visionären Denken. Nicht nur die Karosseriestruktur, auch viele andere Details des Personenwagens werden in dieser Zeit unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit verbessert und überarbeitet. Hier sind unter anderem Türschlösser, Polsterungen des Innenraums, Windschutzscheiben aus Sicherheitsglas und Sicherheitsgurte zu nennen.
Die Daimler-Benz Ingenieure verfolgen in den 1950er Jahren aufmerksam, wie sich Unfallversuche als neues Instrument der Forschung und Entwicklung in den Vereinigten Staaten etabliert. Bei Besuchen amerikanischer Universitäten und Automobilhersteller bekommen die Experten aus Stuttgart wichtige Anregungen für die eigenen Komponentenversuche und Crashtests. Unter anderem besuchen Karl Wilfert, Rudolf Uhlenhaut und Fritz Nallinger im Jahr 1955 das Unfallversuchsgelände von Ford in Dearborn. Erstaunt nehmen sie zur Kenntnis, dass Ford seinerzeit offensiv mit der Unfallforschung wirbt. Das wird wenig später auch den Umgang von Mercedes-Benz mit dem sensiblen Thema Fahrzeugsicherheit beeinflussen. Seit den 1960er Jahren nehmen Vertreter von Mercedes-Benz außerdem auch an den Stapp Car Crash Conferences teil. Zu den wichtigen Beiträgen der Stuttgarter in den ersten Jahren gehört vor allem der 1966 von Karl Wilfert gehaltene Vortrag „Comprehensive Vehicle Safety Development“.
Die neue Baureihe W111 profitiert von den ersten Versuchen der Ingenieure zur Fahrzeugsicherheit. Zwar gibt es noch keine Crashtests im engeren Sinn, aber seit den Jahren 1956 und 1957 erproben die unternehmenseigenen Forscher bereits einzelne Fahrzeugkomponenten auf ihr Verhalten bei Unfällen. Die Aufnahme dieser Versuche stellt eine wichtige Zäsur dar in der Sicherheitsforschung der Stuttgarter Marke. Denn zuvor kommen Informationen über die passive Fahrzeugsicherheit lediglich durch die Begutachtung von Unfallfahrzeugen zusammen.
Im Vordergrund der Komponentenerprobung stehen zunächst Teile des Fahrzeuginnenraums. Dabei können die Ingenieure unter anderem auch auf bestehende Methoden aus der Glasindustrie zurückgreifen. Denn zur Untersuchung von Sicherheitsglas ist schon in den Vorjahren ein Simulator entwickelt worden, der den Aufprall eines menschlichen Kopfes auf die Frontscheibe nachahmt.
Ähnlich ist der Apparat aufgebaut, mit dem Mercedes-Benz zum Beispiel die Polsterung von Armaturenbrettern testet: Eine rund fünf Kilogramm schwere Holzkugel prallt durch die Kraft einer Feder auf das zu untersuchende Bauteil. Ein Messschreiber registriert dabei die Verzögerung des Kunstkopfes durch das Polster. Nach und nach untersuchen die Ingenieure die verschiedenen Teile des Fahrzeuginnenraums mit dem Schlagkopf. Dabei erweisen sich nicht nur hervorstehende Komponenten als gefährlich, sondern auch Holzverkleidungen, die zum Splittern neigen. Weil die Kunden gerade in Oberklassemodellen aber nach Echtholz als Material der Innenausstattung verlangen, entwickelt Mercedes-Benz ein mehrschichtiges Verbundmaterial, in dem das Holz durch Aluminiumeinlagen vor dem Splittern geschützt wird.
Insbesondere die Entwicklung des Sicherheitsgurts verlangt Ende der 1950er Jahre auch nach einem zuverlässigen Testverfahren für dieses im Automobil neue Rückhaltesystem. So entsteht 1959 ein Versuchsschlitten, der zunächst pendelnd aufgehängt gegen ein festes Hindernis beschleunigt wird. Aus diesem ersten Modell entsteht der horizontal auf Schienen fahrende Versuchsschlitten, der von Stahlfedern beschleunigt wird. Als Versuchsperson dient ein in den Vereinigten Staaten gekaufter Dummy. Diese frühe Versuchspuppe, die gleichzeitig auch bei den ersten Crashtests eingesetzt wird, erhält von ihren Betreuern den Namen Oskar. An diesen stummen Pionier der Sicherheitsforschung bei Mercedes-Benz erinnert noch die Enkelgeneration der Dummies: Der Klimadummy, mit dem 2007 an der spezifischen Temperaturwahrnehmung im Fahrzeug geforscht wird, heißt Dr. Oscar.
Neben dem Sicherheitsgurt werden im Unfallsimulator auch gepolsterte Lenkradpralltöpfe und ähnliche Bauteile erprobt. Aus den Schlitten der ersten Generation entsteht bereits Mitte der 1960er Jahre ein neuer Aufprallwagen, auf dem bei Bedarf auch die komplette Karosserie eines Personenwagens für Belastungsversuche montiert werden kann.
Einen Unfall so umfassend wie nur möglich zu simulieren, das ist Ende der 1950er Jahre das Ziel aller Entwicklungen der Unfallforscher bei Mercedes-Benz. Daher führt kein Weg am aufwändigen, schwierig zu steuernden und teuren Crashtest vorbei. Bei diesem Testverfahren wird ein komplettes Fahrzeug einer gezielten Kollision ausgesetzt und entsprechend verformt. Die Rolle der Insassen spielen dabei die Dummies.
Beim ersten Crashtest von Mercedes-Benz im Jahr 1959 wird ein Versuchswagen frontal gegen eine feste Barriere aus alten Presswerkzeugen beschleunigt, die für den Schrott bestimmt sind. Nach dieser Premiere legen die Ingenieure eine Pause ein, um das neue Verfahren bewerten zu können. Von März bis April 1960 folgen dann an drei Versuchstagen weitere Crashtests. Dabei werden auch komplette Unfälle simuliert – so zum Beispiel der Zusammenstoß eines Fahrzeugs der Baureihe W111 in die Seite einer Limousine vom gleichen Typ. Außerdem finden wieder Frontalcrashs statt und erstmals auch Überschlagsversuche. Vorbereitende Versuche mit älteren Wagen ermöglichen die Konstruktion einer Rampe, die den Testwagen in der Luft um die Längsachse rotieren und auf dem Dach landen lässt. So messen die Sicherheitsfachleute die Reaktion der Karosserie auf einen Überschlagunfall.
Wichtig in diesem zweiten Jahr der Crashtests ist auch die Informationspolitik des Unternehmens rund um das Thema Unfallversuche: Bereits zum Versuchstag am 11. April 1960 lädt Daimler-Benz auch die Presse ein, um die neuen Verfahren zur Sicherheitsforschung öffentlich zu präsentieren. Damit stellen die Experten die Bedeutung der Fahrzeugsicherheit über die früher vorherrschenden Bedenken, das Thema Unfall überhaupt in der Kommunikation gegenüber den Kunden zu vertiefen.
Die Crashtests von Mercedes-Benz führen von 1959 an nicht nur zu einer Weiterentwicklung der Fahrzeugsicherheit. Auch die für jene spektakulären Unfallversuche eingesetzte Technik wird kontinuierlich verbessert. So dient zunächst eine Schleppanlage zur Beschleunigung der Testwagen, weil diese nicht mit eigener Motorkraft beschleunigt werden können. Die Schlepptechnik borgen sich die Ingenieure von den Segelfliegern der Technischen Hochschule Stuttgart aus, die die Anlage zum Flugzeugstart einsetzen. Bei Mercedes-Benz lässt der Schlepplift nun fabrikneue Limousinen abheben, wenn die für einen Überschlag vorgesehenen Testwagen mit einer Geschwindigkeit von 75 bis 80 km/h auf die so genannte Korkenzieher-Rampe rollen.
Doch ideal ist die Beschleunigung der Versuchswagen mit der Schleppanlage nicht. Auch der Geradeauslauf der Testfahrzeuge lässt zu wünschen übrig: Manchmal rollt das für den Crash vorgesehene Auto an der Barriere oder der Rampe vorbei. Dann muss die Werksfeuerwehr anrücken, um das Fahrzeug zu bergen. Denn getestet wird in den ersten Jahren auf einem freien Platz, der zum Werksgelände Sindelfingen gehört. Neben diesem Platz fließt ein Bach mit Namen Schwippe, in dem während der Pionierjahre immer wieder Fahrzeuge landen.
Ernst Fiala schafft 1962 Abhilfe: Für die Unfallexperimente der Mannschaft um Karl Wilfert baut er eine Heißwasserrakete, die nun die Fahrzeuge ohne Schleppleine antreibt. Entscheidende Hinweise für die Konstruktion erhält Fiala vom Institut für Physik der Strahlantriebe am Flughafen Stuttgart. Das auf einem einachsigen Anhänger montierte Gerät wird hinter dem Versuchswagen angebracht und besteht aus einem Druckbehälter, einem schnell öffnenden Ventil und einer Ausströmdüse. Um Schub zu erzeugen, wird vor dem Experiment der zu etwa 75 Prozent mit Wasser gefüllte Behälter beheizt, bis die Temperatur des Wassers circa 260 Grad Celsius erreicht hat. Der dabei entstehende Überdruck treibt nach dem Öffnen des Ventils Automobil und Rakete an und beschleunigt das Ensemble auf mehr als 100 km/h.
Mit der Einführung der Heißwasserrakete 1962 verbessert sich auch die Strecke: Eine Stahlbetonplatte wird als Fahrbahn gebaut, die Führung der Testfahrzeuge und des Antriebs geschieht nun durch eine Eisenbahnschiene, außerdem gibt es einen Fangzaun zum Bach hin. Die deutliche Aufwertung der Strecke ist nicht nur für die werkseigenen Versuche wichtig. Denn Mercedes-Benz führt von 1962 bis 1967 im Auftrag des Landes Baden-Württemberg auch Leitplankenversuche aus, bei denen neue Leitplankentypen getestet werden. 1964 wird die Strecke außerdem von bisher 65 Meter auf nun 90 Meter verlängert, um auch schwere Personenwagen wie den Typ 600 der Baureihe W100 einem Crashtest unterziehen zu können.
Der große Vorteil eines Crashtests im Gegensatz zur Auswertung von Unfallautos liegt in der Möglichkeit, den tatsächlichen Ablauf der Kollision in allen Details zu erfassen. Die dazu notwendige Analysetechnik ist in den Jahren vor 1959 entwickelt worden. Zu ihr gehören Beschleunigungssensoren in den Dummies und im Testwagen selbst, aber auch die Hochgeschwindigkeitsfilme, um Aufnahmen zwecks Analyse der Kollision in extremer Zeitlupe wiedergeben zu können. Der Einsatz von neuartigen Simulationspuppen sorgt für besonders aussagekräftige Ergebnisse. Denn diese mit Messdosen für Beschleunigungswerte ausgestatteten Dummies, die seit 1952 in den Vereinigten Staaten eingesetzt werden, liefern erstmals reproduzierbare Daten über die Belastungen, die der menschliche Körper bei einem Autounfall aushalten muss.
Oskar, der Dummy vom Typ VIP des Herstellers Alderson Research, bleibt während der ersten Crashtests in Sindelfingen zunächst die einzige Versuchspuppe. Um Beifahrer zu simulieren werden vielmehr Sandsäcke und Schaufensterpuppen verwendet. Auch als später weitere und modernere Testpuppen angeschafft werden (1972 sind insgesamt acht Stück im Einsatz), leistet Oskar noch wertvolle Dienste. Insgesamt drei Jahrzehnte lang wird diese erste Versuchspuppe in der Sicherheitsforschung der Stuttgarter Marke eingesetzt.
Schnell differenzieren sich allerdings die Maße und Messmethoden der Dummies gegenüber dem Typ VIP: In den 1960er Jahren entstehen Puppen, deren Körperproportionen dem Durchschnitt typischer Männer, Frauen und Kinder entsprechen. Auch die Messgenauigkeit für bestimmte Versuchsanordnungen wird immer wieder verbessert – dazu zählt neben den Passagier-Dummies auch eine Testpuppe für Unfallsimulationen mit Fußgängern. Außerdem werden Dummies entwickelt, mit denen bestimmte Unfallszenarien besonders genau gemessen werden können, sowie hoch spezialisierte Testpuppen für Versuche jenseits der Crashtests – beispielsweise der Klimadummy, um die Einflüsse von Lufttemperatur und -feuchtigkeit auf den menschlichen Körper festzustellen.
Die steigende Zahl der Crashtests und der höhere Anspruch an die Ergebnisse solcher Versuche machen bereits Ende der 1960er Jahre die eingeschränkten Kapazitäten und Möglichkeiten der alten Teststrecke in Sindelfingen deutlich. So wird von 1971 bis 1973 ein neues Unfallversuchszentrum in Sindelfingen gebaut. Zunächst installieren die Sicherheitsforscher einen Bendix-Schlitten für die Unfallsimulation. Dann wird 1972 der Bau einer neuen Crashanlage begonnen. Auf ihr sollen Frontal- und Seitenkollisionen sowie Überschläge möglich sein.
Als Antrieb der Versuchswagen auf der 65 Meter langen Teststrecke entscheiden sich die Ingenieure für einen Linearmotor mit 53.000 Newton Schubkraft. Das Aggregat beschleunigt die Autos auf der ersten Hälfte der Bahn auf die Zielgeschwindigkeit, regelt auf der verbleibenden Strecke das Tempo auf den gewünschten Wert ein und koppelt rechtzeitig vor der Kollision aus. In der einen Richtung der Strecke prallen die Testwagen planmäßig gegen eine 1000 Tonnen schwere Barriere, die auf einer sensiblen Kraftmessplatte ruht. In der anderen Richtung geht es zu Überschlagsversuchen. Gezielte Zusammenstöße mit anderen Fahrzeugen werden aber weiterhin auf einem Freigelände ausgeführt.
Ein Ziel der Unfallversuche von Mercedes-Benz ist es von Anfang an, möglichst realistische Ergebnisse zu erhalten. So wird die volle Frontalkollision gegen eine starre Barriere aus Schrott oder Beton zunehmend durch den versetzten Aufprall ersetzt. Die Forschungen am versetzten Zusammenstoß beginnen 1975. Ein solcher Offset-Frontalaufprall wird 1992 zum ersten Mal bei Mercedes-Benz gegen eine deformierbare Barriere durchgeführt, um die Ergebnisse noch besser mit dem Verhalten des Fahrzeugs bei einem realen Unfall vergleichen zu können. Für europäische Autotests wird später eine deformierbare Barriere entwickelt, deren Aufbau die Versuchsergebnisse aus dem Sindelfinger Sicherheitszentrum entscheidend beeinflusst. Nach der Einführung des Stufenbarrierentests ist dieses neue europäische Prüfverfahren ein weiterer großer Schritt in Richtung realitätsnaher Unfallerprobung. 1993 wird der Offset-Crash gegen eine verformbare Barriere aus Metallwaben mit 50 Prozent Überdeckung und 60 km/h zum neuen Mercedes-Benz Standard.
Als 1998 das Mercedes-Benz Technologie-Center (MTC) geschaffen wird (Grundsteinlegung ist 1995), wird die Crash-Anlage in Sindelfingen auf den aktuellen Stand der Technik gebracht. Die Beschleunigungsstrecke wächst nun auf 95 Meter an, damit sind sämtliche Crashtest-Varianten in der Halle möglich. Das betrifft insbesondere den Offset-Crash, der in der Realität deutlich häufiger vorkommt als die frontale Kollision eines Fahrzeugs. Aber auch Frontalversuche mit zwei Fahrzeugen sind nun im Trockenen möglich, weil zudem der Linearmotor durch eine Seilzuganlage ersetzt wird. Die Aufzeichnung der Versuche erfolgt nicht mehr durch eine Hochgeschwindigkeits-Filmkamera, sondern nun speichert Videotechnik den Verlauf des Unfalls. Die sehr hohe Frequenz der Bildfolge ist gleich geblieben, so lassen sich die Unfallversuche detailliert in extremer Zeitlupe auswerten. Beim Umbau ist die Erweiterung der Anlage auch überdacht worden, nun können Versuche mit Personenwagen sowie mit Nutzfahrzeugen komplett vom Wetter unabhängig stattfinden.
Angesichts des umfangreichen Forschungs- und Testprogramms von Mercedes-Benz fällt schon bald nach dem Jahr 2000 die Entscheidung, das MTC in Sindelfingen nochmals zu erweitern. Beim symbolischen Spatenstich im Juli 2007 stellt Thomas Weber, Vorstandsmitglied der Daimler AG und verantwortlich für die Konzernforschung sowie Mercedes-Benz Cars Entwicklung, das rund 100 Millionen Euro teure Projekt vor: „Die Erweiterung des Mercedes-Benz Technology Center ist eine wichtige Maßnahme, um die technologische Spitzenstellung und unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter auszubauen.“ Zur Erweiterung gehört unter anderem die Einrichtung neuer Großprüfstände wie Klimakanäle und Fahrsimulator, die 2010 in Betrieb genommen werden sollen.
2009 stellt Mercedes-Benz zur 21. ESV-Konferenz den neuartigen PRE-SAFE®-Simulator vor. Dieser Unfallsimulator verwendet erstmalig für diesen Zweck einen Linearmotor, um die Fahrzeugkabine innerhalb von vier Metern auf bis zu 16 km/h zu beschleunigen, bevor der Aufprall erfolgt. Der Antrieb ist frei programmierbar und funktioniert auch in Gegenrichtung. So können verschiedene Beschleunigungsprofile und auch ein Heckaufprall demonstriert werden. Die Probanden erleben im Simulator live die Wirkung von PRE-SAFE®-Funktionen wie Gurtvorspannung, NECK-PRO und aufblasbare Seitenwangen der Sitze. Mit diesem Simulator entwickeln Mercedes-Benz Ingenieure auch Systeme zur Verbesserung der Aufprallsituation durch die Analyse der simulierten Vorunfallphase. Das 2009 präsentierte Versuchsfahrzeug ESF 2009 steht in einer langjährigen Tradition der Sicherheitsforschung bei Mercedes-Benz: Für die ESV-Sicherheitskonferenzen der Jahre 1971 bis 1975 bauten die Stuttgarter Sicherheitsexperten mehr als 30 Versuchsfahrzeuge und erprobten sie unter anderem mit Crashtests.
Crashtests sind in der Geschichte der Sicherheits- und Unfallforschung von Daimler-Benz nicht als einzelnes Werkzeug zu sehen. Denn die Ergebnisse anderer Disziplinen wie der systematischen Unfallforschung, die von den Stuttgartern 1969 aufgenommen wird, beeinflussen auch die Crashtests immer wieder. So zeigt eben die Auswertung tatsächlicher Unfallszenarien, dass der volle Frontalaufprall relativ selten ist, sondern vielmehr der versetzte Frontalaufprall die meisten Unfälle ausmacht. Entsprechend wird das Szenario der Crashtests verändert.
Die Unfallspezialisten betreiben einen hohen Aufwand, um möglichst direkte und objektive Analysen des Unfallgeschehens im Straßenverkehr zu liefern: Nach einem Pilotversuch im Jahr 1967 startet 1969 die kontinuierliche Unfallforschung bei Mercedes-Benz, in deren Rahmen die Ingenieure Kollisionen mit Fahrzeugen der Marke im Großraum Stuttgart zeitnah auswerten. Auf diese Weise geben die Ermittlungen der Unfallforscher immer wieder wichtige Hinweise auf Bauteile, die unter dem Gesichtspunkt der passiven Sicherheit gezielt verbessert werden können. Die Erprobung der Ergebnisse geschieht dann wieder durch Unfallsimulationen und Crashtests.
Mit steigender Leistungsfähigkeit der Computertechnik werden aber die Crashversuche auch durch rechnerische Mehrkörper-Systeme ergänzt. Erste digitale Crashberechnungen an digitalen Modellen ganzer Fahrzeuge gibt es schon für die E-Klasse der Baureihe W124, die 1984 debütiert. Auf klassische Crashtests können die Mercedes-Benz Entwickler aber auch heute nicht verzichten.
Fotos: Daimler AG
Geschrieben von Maik Jürß
Erschienen am Mittwoch, den 10. Juni 2015 um 00:10 Uhr | 7.095 Besuche
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